Nicht jeder ist geduldig und nur wenige Menschen sind so geduldig wie meine Kollegin.
Vor mehr als zwei Jahren fragte sie mich das erste mal ob ich ihr einen Mantel nähen würde. Sie hätte da ein abgeliebtes Stück, dass sie unglaublich mag, für das sie aber keinen Erstatz findet.
Ich habe abgelehnt. Schließlich konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt selber noch keinen Mantel nähen. Und überhaupt, nähe ich nur für mich oder die Familie. und wenn ich für andere nähe, dann eher weil ich es anbiete und nicht weil ich darum gebeten werde.
Dann nähte ich mir meinen
ersten Mantel und brauchte 30 Stunden dafür.
Sie fragte erneut. Ich lehnte ab.
ich nähte einen
zweiten Mantel und brauchte 20 Stunden dafür.
Sie fragte erneut. Ich lehte ab.
Und einen
dritten Mantel und brauchte 20 Stunden dafür.
Sie fragte erneut. Ich lehnte ab, aber nicht mehr so entschieden wie die Male zuvor, denn zum eine ist es wirklich eine meiner liebsten Kolleginnen und zum andere imponierte mir ihre Geduld und Beharrlichkeit.
Dann nähte ich für eine Kollegin (meine liebste Kollegin) eine
Babydecke.
Sie fragte erneut. Ein schwacher Moment - und sie hatte mich. Ich sagte zu. Ein Frühlings-Sommermantel sollte es werden.
Sie brachte mir ihren geliebten, aber abgetragenen leichten Mantel mit, der ersetzt werden sollte. Ein schlichtes Modell ohne Taschen oder Riegel (Gott sei Dank), nicht mal ein Futter hatte das Original.
Ich versprach den Mantel für Frühjahr 2016, schließlich musste der Schnitt aus dem alten Mantel erstellt werden und auch die Wahl des Stoffes war nicht so einfach. Das Original war aus einem Romanit-ähnlichen Soff. Ich vernähe ausschließlich Webstoff für einen Mantel. Punkt. Einverstanden.
So startete das Mantelprojekkt im Juli 2015
- Alten Mantel zerschneiden, Abnäher auftrennen usw. 1,5 h
- Zuschnitt Probemodell und nähen Probemodell aus altem Bettlaken 2,5 h
- Anprobe und abstecken Probemodell 1 h
- Stoffproben bestellen und Stoff auswählen, Stoff bestellt 1,5 h
Das waren die Aktivitäten bis zum Herbst. Dann ruhte das Projekt.
Im März ging es weiter:
- Zweite Anprobe Probemodell 0,5 h
- Vom Probemodell den Schnitt abnehmen und Schnittmuster auf Folie malen 2,25 h
- Schnittteil für Beleg und Futterteil vorn erstellen 1 h
- Stoff zuschneiden, Futterstoff zuschneiden, Einlage zuschneiden 2,5 h
- Einlage aufbügeln 1,0 h
An dem Tag habe ich mich ziemlich für meine Zusage verflucht. Stundenlang rutschte ich auf den Knien für das zuschneiden... die Stecknadeln piekten mich ständig und als dann noch Blut von der Finderspitze auf den weißen Stoff fiel - war ich drauf und dran alles in die Ecke zu feuern.
Aber versprochen ist versprochen.
Zur Aufmunterung nähte ich aus einem Reststück des weißen Stoffen eine einfache Tasche, als Clutch und schenkte es der Kollegin als Vorgeschmack. Der schöne Stoff kam schon toll zur Geltung auf der Tasche.
Also weiter:
- Futtermantel nähen 2,5 h
- Anprobe Futtermangel 0,25 h
- Obermantel nähen 3,5 h
- Anprobe und abstecken 0,5 h
- Umsetzung aus der Anprobe: Ärmel enger, Vorderteil schmaler, Revers schmaler 3 h
- Zweite Anprobe 0,5 h
Warten auf die richtigen Knöpfe.
Und dann die finalen Schritte:
- Fertigstellen, Saum, Knopflöcher und Knöpfe, Länge eines Armes nachjustieren , Handsaum Ärmel, Steppnaht Revers und Kragen 3 h
Übergabe am 19. April 2016
Zeitlicher Aufwand für Schnitt, Probemodell, echtes Modell: 27,0 Stunden. Gefühlt sehr viel mehr, wegen der verschiedenen Phasen in denen das Projekt ruhte.
Meine Kollegin freut sich sehr über das edle Stück und hat es stolz im Büro vorgeführt, ebenso bei Freunden und der Verwandschaft. Fotos wurden durch die ganz Republik geschickt.
Diese Freude zu erleben ist sehr schön und auch Belohnung für meine Mühe.
Am 30.06. gehe ich mit meiner Kollegin in die Oper. Das ist neben dem Materialpreis ihr Teil der Vereinbarung.
Den Schnitt für den Mantel habe ich vom Original abgenommen, den Futterschnitt habe ich selber erstellt. Die Passform ist nicht 100% aber ausreichend gut. Der Jacquard-Stoff ist steifer und weniger elastisch als das Original. Aber so wundervoll edel - das ist einfach schön anzuschauen.
Beim Nähen ist so heller Stoff etwas nervig - ich habe mir x mal die Hände gewaschen und auch öfter als sonst Staub gewischt - und habe extra ein neues Bügeleisen in Betrieb genommen, weil das alte an der Sohle schon einige Flecken hatte - auf keinen Fall wollte ich risikieren, dass der Stoff Flecke bekommt.
Das Fazit:
Meine Kollegin ist glücklich, sie hat einen außergewöhnlichen Mantel der ihr sehr gefällt und der eine besondere Geschichte hat.
Ich habe eine echte Herausforderung gemeistert. Es war schwerer als gedachte für einen anderen Körper zu nähen und häufig in Abstimmung zu gehen. Ich freue mich der Freude der Kollegin und auch an dem schönen, edlen Mantel. Ich freue mich auch auf den Opernabend.
In jedem Fall ist so ein Projekt ein heikle Angelegenheit. Was ist, wenn das Ergebnis dem Empfänger nicht gefällt? Allein aus Höflichkeit darf das nicht sehr deutlich formuliert werden. Was ist, wenn man als Näher das Projekt aufgeben muss, weil etwas schief gegangen ist? Dieser Stoff zum Beispiel ist nicht mehr erhältlich.
In unserem Fall hat alles gut geklappt. Ende gut alles gut.
Seit der Fertigstellung des Mantels bin ich wild entschlossen für lange, lange Zeit nur noch für mich zu nähen.
Tja, zwischenzeitlich hat die Nichte eine Bluse bekommen und einen Rock, meine Mutter ein Shirt und die große Patchworkdecke für das Herzblatt steht kurz vor der Vollendung. Aber dann, dann erstmal nur für mich...